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Die gute alte Küche - in neuem Gewand > Allgemeines > Politik & Wirtschaft
Sägefisch
Angeregt durch die Ehe-Diskussion und befeuert durch zuviel ereignislose Zeit auf Nachtschicht kamen mir wieder einige meiner berühmten Gedanken. Ist ja immer noch besser als die ganze Zeit zu essen, und zur Nesselprophylaxe: bitte das folgende nicht als Kritik an anwesenden auffassen. icon4.gif

In diesem Forum und auch im von mir wahrgenommenen Teil öffentlicher Diskurse beziehen Lesben meist das was man als fortschrittliche Positionen bezeichnen könnte. Wenn man die Skala bemühen wollte: eher links oder was man heute so nennt, dem Alternativen, Grünen und Sozialen zugeneigt, das Herkömmliche herausfordernd. Im besseren Fall bewusst und durchwirkt, im trüberen auch mal einem gewissen Mainstream folgend; Panzer schlecht, Staat heikel, Igel gut.

Kein Wunder und auch mir nicht unbekannt. Schliesslich treten wir mit solchen Positionen auch für uns selbst ein, viele davon bedingen die Möglichkeit, in einer Gesellschaft offen so zu leben wie wir es tun.

Aber ach, werd´ ich alt und störrisch? Der Ehebegriff aus besagtem Thread ist nur ein Beispiel dafür, dass es mir des Aufbrechens manchmal zuviel wird. Auch sind mir Grundgesetzverankerungen und dergleichen zu wuchtige Mittel um sie (zumindest im Vorbeigehen) zu petitieren. Ich kann mittlerweile so einigen Anliegen nicht immer folgen, und zu bestimmten anderen Themen schweige ich mal lieber ganz. Bilde ich es mir ein, oder schwirren hie und da Erwartungen herum, welche Standpunkte sich für unsereins ziemen?

Dabei habe ich ja durchaus eine dunkle Vergangenheit als gefragte Verfasserin reisserischer Juso-Flugblätter und hab meinen Namen auf jede Unterschriftenliste gekritzelt die mir links von der Mitte unterkam. Einfach war´s. Wie es nun soweit mit mir kommen konnte hat sich mir noch nicht ganz erschlossen, jedenfalls hat sich der Wandel parallel zu einem Mehr an Erwachsenwerden, tätigem Sein und Selbstverantwortung vollzogen - Dinge die mir trotz ihrer fraglichen Pendants (man wird ja auch selbstbezogener dabei) sehr gut bekommen sind. Weswegen ich mein heutiges Empfinden tendenziell lieber hab und als zu mir gehöriger erlebe, ist es doch aus eigener Anschauung erwachsen und soweit ich sehe auch weiterhin nicht zum Stehenbleiben bereit, so zäh es manchmal fliesst. Jedenfalls kriege ich heute auch Ansichten unter die ich früher skandalös fand.

Ein Wort dafür finde ich im Schema indes nicht. Im Moment mache ich mir offenbar einfach meine eigenen Gedanken und komme mit Vereinfachungen politischer Anliegen auf keiner Seite besonders gut zurecht, auch dann nicht wenn sie mir selbst einen schnellen Vorteil zu versprechen scheinen. Wahlkreuz ist hier das maximale was ich noch beitragen kann. Ob das nochmal wieder anders wird?
Deirdre
ZITAT(Sägefisch @ 24.May.2010 - 16:22) *
Bilde ich es mir ein, oder schwirren hie und da Erwartungen herum, welche Standpunkte sich für unsereins ziemen?
Ja, die scheint es zu geben, die Erwartungen. Immer wieder kommen kleine Andeutungen in dieser Richtung, auch im "Ehethread". Aber in solchen Diskussionsthreads zeigt sich ganz schnell, dass es unter uns keine einheitlichen Meinungen bezüglich Politik, Ethik oder was auch immer gibt.

ZITAT(Sägefisch @ 24.May.2010 - 16:22) *
Schliesslich treten wir mit solchen Positionen auch für uns selbst ein, viele davon bedingen die Möglichkeit, in einer Gesellschaft offen so zu leben wie wir es tun.
Wenn wir uns selbst als Homosexuelle akzeptieren und fordern, offen homosexuell leben zu können, ohne deswegen diskriminiert zu werden, haben auch wir selbst unweigerlich bestimmte liberale Einstellungen. Aber: diese Liberalität muss sich nicht auf alle Fragen beziehen. Ich bin sicher, es ist möglich, auf bestimmte Weise konservativ zu sein und gleichzeitig offen und tolerant. (Hätte ich als Teenager allerdings nicht so gesehen.)

Möglich ist außerdem Homophobie trotz gelebter Homosexualität: So ein Mensch muss noch nicht einmal über einen Hauch von Liberalität verfügen, geschweige denn über eine politisch linke Meinung.

DerTagAmMeer
ZITAT(Sägefisch @ 24.May.2010 - 16:22) *
Bilde ich es mir ein, oder schwirren hie und da Erwartungen herum, welche Standpunkte sich für unsereins ziemen?


Hm, von Menschen, die sich politisch links verorten, erwarte ich schon Respekt gegenüber gesellschaftlich benachteiligten Gruppen und eine gewisse Reflektiertheit der eigenen Position. Umgekehrt erwarte ich allerdings nichts. Im Gegensatz zur politischen Gesinnung halte ich die eigene sexuelle Orientierung nicht für frei wählbar - also kann ich auch keine "Auflagen" damit verbinden. Und ich denke auch nicht, dass die eigene Sexualität (oder damit verbundene soziale Vor- oder Nachteile) auf die politische Gesinnung abfärbt. Selbst am ganz rechten Rand gab es ja recht eindrucksvolle Beispiele homosexueller Identität - und selbst Vegetarier können abgrundtief böse sein wink.gif.

In meinem eigenen Leben sind politische Verantwortung, Rebellionsbereitschaft, Lebensstil und Queerness aber schon untrennbar miteinander und mit meinem Gerechtigkeitsempfinden verwachsen. Es gehört einfach alles zusammen und alles zu mir.
Allerdings ist mir eine gemeinsame Wellenlänge in meinem persönlichen Umfeld auch eher politisch als sexuell oder musikalisch wichtig. Denn trotz aller Meinungsverschiedenheit braucht es langfristig wohl doch einen gemeinsamen Blick in die Welt, um offene und fruchtbare Gespräche führen zu können. Den habe ich allerdings auch schon mit Menschen gefunden, die aus für mich schwer nachvollziehbaren Gründen FDP oder CDU wählen.

Was den Altersstarrsinn betrifft, bewegt sich meiner wohl eher in umgekehrter Richtung. Und seit ich wieder mehr mit jungen Menchen zu tun habe, glaube ich kaum, dass sich da allgemeine Tendenzen ableiten lassen.
Jedoch scheint mir die Vorstellung relativ verbreitet, alle Positionen, die man früher selbst einmal eingenommen und sich mittlerweile von ihnen distanziert hat, seien irgendwie naiv/vereinfachend/untereintwickelt. Hierbei handelt es sich aber möglicherweise um eine Verwechslung der Erinnerung an die eigene Vergangenheit mit ähnlich anmutenden Positionen politisch anders denkender Menschen. Will sagen: Nur weil ich unreflektiert an Mahnwachen teilgenommen habe, sind Mahnmachen kein Zeichen polischer Naivität - ich sollte also vorsichtig sein, von mir auf andere zu schließen biggrin.gif.
svan
Mutiges Thema Sägefisch. Danke.
Ich hätte mir vor einigen Jahren, bevor ich meine L-Gefühle entdeckte oder von ihnen überfallen wurde oder ich mich ganz schrecklich in eine Kollegin verknallte, auch nicht vorstellen können, dass ich mal solche Meinungen wie jetzt vertrete.
Ich bin wertkonservativ und das macht es nicht leichter. Im
Gegenteil, es macht die Sache recht kompliziert, weil es nicht ins Weltbild passt. Nicht in meine eigenes.
Aber es ist nun mal, wie es ist.
Und bei Frauen finde ich es irgendwie auch anders als bei Männern, da Frauen sich schon immer geholfen haben zusammen Kinder großzuziehen zB und zu überleben usw
Während ich die meisten schwulen Männer ziemlich anders erlebe, es geht um andere Themen und andere Dinge wie zB sind fast alle promiskuitiv und finden das völlig normal und okay, während wir Frauen zumeist sehr treue und lange Beziehungen haben. Jedenfalls die Frauen, die ich kenne.
Andere soll es ja auch geben. Doch die kenne ich nicht.
Und auch sonst mache ich mir so meine Gedanken zu ganz vielen Fragen.
Die Tage sah ich eine schwangere Frau und ihre Frau, sie sahen sehr, sehr glücklich aus. Die eine ziemlich feminin und wäre auch gut als ganz normale Hete durchgegangen und die andere mit Kurzhaarschnitt und Handwerkerin, hätte auch einen guten Typen abgegeben können.
Für mich spielt es keine wirkliche Rolle, ob jemand schwul oder lesbisch ist. Durch meine Arbeit kannte ich immer sehr viele Schwule.
Allerdings war es doch etwas shocking bei mir selbst, solche Gefühle wahrzunehmen.
Und ich denke, dass viele Schwule nicht so gute Mütter sein können wie wie viele Frauen, wobei die meisten Heteroväter ja auch nicht grade die tollen Väter sind. Und ich sehe, das einzelne Menschen immer noch viel unterschiedlicher sind als irgendwelche Kategorien.
sonnenstrahl
ZITAT(Sägefisch @ 24.May.2010 - 16:22) *
Bilde ich es mir ein, oder schwirren hie und da Erwartungen herum, welche Standpunkte sich für unsereins ziemen?


Was mich betrifft: Nein - egal, wen du mit "uns" meinst.

Es gibt Menschen, mit denen ich mich persönlich und außerhalb meiner Arbeit weitaus lieber umgebe als mit anderen. Und nicht nur weil ich finde, dass sie besser riechen. Und bestimmt nicht, weil sie zur gleichen sexuellen Präferenz tendieren:
Als meine Freunde bezeichne ich Menschen, die ich als lebensfreundlich, wach, achtsam, (selbst)reflektiert und dennoch als emotional und (mit)schwingungsfähig empfinde, die keine grundsätzlichen Berührungsängste mit Spiritualität haben, und allerlei Farbtupfen von der Palette der menschenmöglichen Schrägheiten an sich selbst und an anderen willkommen zu heißen vermögen. Wenn sie bei all dem eine andere Partei wählen als ich - na ja, dann ist das eben so ...

Was vor 20-30 Jahren für mich nicht so war, und jetzt so ist: Ich bin des Mich-Erklärens und des Diskutierens oftmals müde. Und des Redens (live) erst recht.
Das ist allerdings eher meinem Arbeitsalltag geschuldet als meinem fortgeschrittenen Alter.
Tatsächlich fühle ich mich nämlich verglichen mit damals weitaus freier in meinem Denken und Fühlen. Das zieht nach sich, dass ich dieses Mehr an Freiheit in der Regel recht locker auch anderen zugestehen kann. Nur weil ich hier oder anderswo meine Meinung vertrete oder meine Gedanken öffentlich auslote, bedeutet das nicht, dass ich die gleichen Wege und Ergebnisse von anderen erwarte.

Politik für sich genommen ist für mich nichts, wo es mich sonderlich hinzieht. Genau genommen: Weniger denn je. Sie ist für mich eher etwas Lästiges, dem ich mich nicht völlig entziehen kann und will. (Ähnlich wie meine Steuererklärung ph34r.gif .)
Ich politisiere höchst ungern. Vielleicht kann ich es auch einfach gar nicht.
Ich bin zwar mit 20 Gründungsmitglied der Grünen geworden (und später wieder ausgetreten), und habe mich im gleichen Jahr zu den Gemeinderatswahlen aufstellen lassen, aber schon damals war für mein Gefühl - das ich eine Weile verzweifelt zu verdrängen versuchte - die Welt der Politik kein Terrain, auf dem ich zuhause war. Und ich war 1981 sowas von heilfroh, dass ich nicht von ausreichend vielen Leuten gewählt wurde ...

Was mich mehr denn je interessiert, ist das Menschsein in seinen unzähligen Ausprägungen. Einschließlich des Menschseindürfens und der Chancen, die das in meinen Augen birgt. Und auch einschließlich unseres Lebensraumes und unserer Mitbewohner.
Dafür kann ich sowohl Berührbarkeit als auch visionäre Leidenschaft empfinden, als auch desillusionierten, zum Staunen bereiten, Eigenheiten, Erkenntnisse, und Rätsel sammelnden Forschergeist.
Ob das was mit Vereinfachung zu tun hat? Ist wahrscheinlich schlichtweg eine Frage des Blickwinkels.
malene
Ich denke schon, dass “allgemein“ von homosexuellen Frauen und Männern aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer unterdrückten Minderheit eine gewisse Toleranz, „Fortschrittlichkeit“ und Solidarität mit ihren Nächsten erwartet wird. Weniger die Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Partei, als eine gewisse Sensibilität gegenüber Leiden und Verletzungen anderer.

Dass diese stille Annahme grob verenfachend ist, müssen wir, glaube ich, nicht weiter diskutieren. Trotzdem ertappe ich mich dabei, dass ich mich über Homosexuelle wundere, die extrem rechts wählen, Tiere quälen oder ein gewalttätiges Benehmen haben. (Weniger, wenn sie wertkonservativ sind, wie svan es ausgedrückt hat, ich kenne mehrere Homosexuelle beiderlei Geschlechts, schon über siebzig, die einen gewissen Konservatismus bewahrt und ihn wunderbar mit ihrer sexuellen Orientierug in Einklang gebracht haben.;-))

Irgendwo in meinem Hinterkopf setzt eine hartnäckige, leise Stimme voraus, dass Opfer nicht Täter werden können, dass sie grundsätzlich solidarisch sind und/ oder nachdenken, bevor sie handeln.
Sägefisch
QUOTE(DerTagAmMeer @ 24.May.2010 - 20:21) *
Umgekehrt erwarte ich allerdings nichts.


Durchaus im Sinne von gleichwertig, oder weil man da eben nicht viel erwarten kann?

Deirdre
ZITAT(malene @ 25.May.2010 - 09:38) *
Irgendwo in meinem Hinterkopf setzt eine hartnäckige, leise Stimme voraus, dass Opfer nicht Täter werden können, dass sie grundsätzlich solidarisch sind und/ oder nachdenken, bevor sie handeln.

Trotz der leisen Stimme (die mir ebenfalls sehr vertraut ist): Das stimmt doch so nicht. Auch das Gegenteil ist möglich. Leider.
DerTagAmMeer
ZITAT(Sägefisch @ 25.May.2010 - 18:01) *
ZITAT(DerTagAmMeer @ 24.May.2010 - 20:21) *
Umgekehrt erwarte ich allerdings nichts.


Durchaus im Sinne von gleichwertig, oder weil man da eben nicht viel erwarten kann?


Im Sinne von "offen für alles".
Natürlich würde ich mir wünschen, dass sich das Bewusstsein um die eigene Sonderstellung in Toleranz, Verständnis und umfassender Sozialkompetenz niederschlägt. Genau das kommt ja auch vor und ist ein Glück für uns alle.
Es gibt aber auch unzählige andere Wege und nicht alle sind erfreulich.

Edit: Ich merke jetzt erst, dass ich mich wohl missverständlich ausgedrückt habe. Wollte sagen, dass ich von der politischen Linken eine lesbenfreundliche Einstellung erwarte, von Lesben aber keine soziale oder liberale politische Position.
svan
"Jedenfalls kriege ich heute Ansichten unter, die ich früher skandalös fand."
Wie meinst Du den Satz Sägefisch?

Ich hab den Eindruck, dass viele sich immer Orientierung suchen. Wo ist oben? Wer hat die Definitionsmacht?
Und wer bestimmt wer Lesbe ist und wie Lesbe ist?
Das wird dann von irgendwem oder einer Gruppe bestimmt. Wer darein passt darf mitmachen.
Dabei finde ich grade, dass Lesbischsein nicht besonders viele Gemeinsamkeiten mit sich bringen muss. Schließlich bringt es auch nicht besonders viele Gemeinsamkeiten mit sich Hetera zu sein.

Und mein Verständnis von "wertkonservativ" bedeutet einfach nur, dass ich mich lieber klassisch kleide und bürgerlich lebe und viel arbeite und hahaha ja ich habe gebügelte Tischwäsche.
Das sagt ja noch garnichts über eine politische Ausrichtung. Und ob ich mich für schwache Menschen und arme Tiere einsetzte hat auch nichts damit zu tun.
Die politische Ausrichtung ist mE nach mit lesbisch und schwul garnicht zu koppeln. Siehe Ole von Beust und Guido Westerwelle.
Das eine hat mit dem anderem notwendigerweise garnichts zu tun.
Und dann gibt es ja noch solche Blüten wie die- wie hieß sie? Christa Wolf? die Ministerin in Hessen war? und sich dann als lesbisch outete und gleichzeitig für das rekreationistische Bibelverständnis eintrat?
Da fällt mir ja nun garnichts zu ein. Das würde Herr Bush aber garnicht gut finden.
CaroX
ZITAT(svan @ 27.May.2010 - 02:42) *
Und mein Verständnis von "wertkonservativ" bedeutet einfach nur, dass ich mich lieber klassisch kleide und bürgerlich lebe und viel arbeite und hahaha ja ich habe gebügelte Tischwäsche.


lol....das kann ich bestätigen icon4.gif

wobei - manchmal gibt´s doch auch ausnahmen, oder?

so ganz 08/15 biste doch auch nicht.... vielleicht son bissel 08/14 einhalb....*zwinker`*

Caro
DerTagAmMeer
ZITAT(svan @ 27.May.2010 - 02:42) *
Und dann gibt es ja noch solche Blüten wie die - wie hieß sie?

Karin Wolff.
Was ist ein rekreationistisches Bibelverständnis? Reaktionäre Ansichten von Kreationisten oder kreative Spekulationen reaktionärer Kräfte?
"Wertkonservativ" ist m. E. allerdings schon ein durchaus politisch geprägter Begriff und nicht bloß Lifestyle. Als solcher beschreibt er eine politische Ausrichtung (oder einen Versuch dem Strukturkonservatismus einen positiv gefärbten Begriff gegenüberzustellen) und nicht das persönliche Verhältnis zu gebügelter Tischwäsche.

ZITAT
Und ich sehe, das einzelne Menschen immer noch viel unterschiedlicher sind als irgendwelche Kategorien

Und warum ist Dein vorletzter Beitrag dann vollgepackt mit Klischees über Schwule und Lesben, Männer und Frauen, Mütter und Väter? Frei nach dem Motto:
ZITAT
Andere soll es ja auch geben. Doch die kenne ich nicht.
Deirdre
Auf Wikipedia habe ich das hier zum Stichwort "Wertkonservatismus" gefunden:
ZITAT
Der Wertkonservatismus ist eine Grundeinstellung oder Grundhaltung, welche zum Ziel hat, die in einer Gesellschaft tatsächlich oder vermeintlich vorherrschenden Wertvorstellungen zu bewahren. Damit will er das Gegenstück zum sogenannten Werterelativismus sein.

Ideengeschichtlich (s.u. Ideen des Konservatismus) versteht man unter Konservatismus eher die Position des Wertkonservatismus. Der Konservatismus verlangt, die gegebene Position zu wahren, sofern das Neue nicht überwiegend als besser erkannt worden ist. Viele konservative Denker halten den folgenden Satz für treffend: „Konservatismus ist nicht ein Hängen an dem, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt.“


Wikipedia zum "Relativismus":
ZITAT
Relativismus ist eine philosophische Denkrichtung, in der davon ausgegangen wird, dass die Wahrheit von Aussagen stets bedingt ist. Das bedeutet, dass jede Aussage auf Bedingungen aufbaut, deren Wahrheit jedoch wiederum auf Bedingungen fußt und so fort. Diese Reihe von Bedingungen endet laut dem Relativismus letztendlich in historischen und damit willkürlichen Festsetzungen oder in bloß subjektiven Überzeugungen, nicht aber in un-bedingten, also absolut gültigen Wahrheiten. Wahrheit ist damit relativ.


Zu Svans "Klischees": Hatte sie nicht in erster Linie von eigenen Beobachtungen und ihren Schlussfolgerungen daraus geschrieben? Ich kann und möchte mich zwar mangels Erfahrung weder ihren Beobachtungen noch ihren Meinungen anschließen, aber ihr Beitrag verdient eine genaue Wahrnehmung.
svan
"Andere soll es ja auch geben, doch die kenne ich nicht."
Stimmt ich kenne persönlich keine promiskuitiv lebenden Lesben, aber viele Schwule, die so leben.
Sägefisch
QUOTE(svan @ 27.May.2010 - 02:42) *
"Jedenfalls kriege ich heute Ansichten unter, die ich früher skandalös fand."
Wie meinst Du den Satz Sägefisch?


Damit wollte ich sagen daß ich heute selbst zu manchem Schluß komme, den ich früher mit eher simplem Etikett versehen und daher nicht begriffen und diskutiert, sondern schlichterdings abgelehnt hätte. Ich fand zum Beispiel Staat doof, heute mag und bedauere ich ihn. Es liegen in mancher Sache echt 180° hinter mir, man könnte sich glatt wie ein Schwein vorkommen.

Ich sehe im übrigen auch nicht daß Deine Stilvorlieben Dich wertkonservativ machen, so wie überhaupt die meisten post- genug zu sein scheinen um sekundäre Fragen der Lebensführung nicht politisch zu verorten (aber leider auch manche primäre). Besonders krude Beispiele wie schwule Nazis (Nazis, nicht Rechte) oder Frau Wolff helfen der Diskussion da nicht wirklich weiter, oder? Mir jedenfalls sticht da eher eine persönliche Tragik ins Auge.

malene
ZITAT(svan @ 27.May.2010 - 09:59) *
Stimmt ich kenne persönlich keine promiskuitiv lebenden Lesben, aber viele Schwule, die so leben.


Siehst Du, bei mir ist es gerade umgekehrt. ;-)
Ich gebe zu, etwas überempfindlich zu sein, wenn gerade Schwule "verallgemeinernd" kritisiert werden, denn ich ganz persönlich habe sie seit Anfang meiner Lesbenkarriere solidarischer und in jeder Hinischt hilfsbereiter erlebt als die meisten Lesben. Aber nun muss ich aufpassen, nicht selbst ins andere Extrem zu verfallen. roetel.gif


svan
Malene, wenn ich viele Schwule kenne, die promiskuitiv leben und meine lesbischen Bekannten und Freundinnen in langen Beziehungen leben und nicht promiskuitiv sind, so ist das meine Erfahrung. Und sagt erstmal nichts über verallgemeinernde Kritik. Vielleicht machen die Frauen das auch und ich weiß es nicht.
Jedenfalls nicht die, die ich näher kenne.
Warum dürfen Frauen und Männer da nicht unterschiedlich sein?
Was hat das mit solidarischem Verhalten zu tun?
Erstmal nichts.
Es ist nur eine Beschreibung meiner Erfahrung.
Auch ich habe viele positive Begegnungen mit schwulen Männern.
Das hat nichts damit zu tun, dass sie einen anderen Lebensstil haben als ich und andere Lesben, die ich kenne.

Rekreationistisches Bibelverständnis ist die Wiederbelebung des kreationistischen Bibelverständnisses, was davon ausgeht, dass die Bibel wortwörtlich zu verstehen sei und in realen sieben Tagen geschaffen wurde.
Es gab im vorigen Jahrhundert eine Bewegung, die das stark vertrat und aus den USA kommt diese Bewegung wieder hierher zusammen mit fundamentalistischen Glaubensvorstellungen und diese Frau Wolff ist dafür eingetreten.
Mein Bibelverständnis ist ein kritisch-historisches.
Die Rekreationististen oder Kreationisten haben ein völlig anderes Weltbild und das würde ich nicht als wertkonservativ bezeichnen, denn die Werte, die sie vertreten halten sie für fundamentalitisch und unwandelbar.
Ein kritisch-historisches Verständnis geht von Wandlungen, Umdeutungen, symbolischem Verständnis und Änderungen aus und ist insofern eben nicht stockkonservativ oder schwarz-weiß.

Sägefisch, das ist vielleicht das schöne am Älterwerden, dass man seine Meinungen ändern darf und auch Erfahrungen einfließen lassen darf und auch Dinge nicht 100% gut finden muss, sondern auch mal was stehen lassen darf, womit man/ frau nicht einverstanden ist.
Ich bin mit sehr viel in diesem Staat nicht einverstanden. Und arbeite auch daran, es zu ändern.
Trotzdem immer noch besser als Malawi, wo grade 2 Schwule zu 14 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurden.
sonnenstrahl
ZITAT(svan @ 27.May.2010 - 02:42) *
Und mein Verständnis von "wertkonservativ" bedeutet einfach nur, dass ich mich lieber klassisch kleide und bürgerlich lebe und viel arbeite und hahaha ja ich habe gebügelte Tischwäsche.
Das sagt ja noch garnichts über eine politische Ausrichtung.


In der Tat sagen deine Beispiele nichts über eine politische Ausrichtung. Sie sagen noch nicht einmal etwas über deine oder irgendjemands Werte aus - deswegen passt nach meinem Dafürhalten der Begriff "wertkonservativ" hier nicht.
Warum jemand viel arbeitet, kann 1000 Gründe haben, von wahrer Begeisterung über Papi u./o. Mami-gefallen-wollen, Abgrenzung, Sich-von-was-auch-immer-ablenken-wollen, Phantasielosigkeit bis hin zu Sucht.

Ebenso, warum jemand "bürgerlich lebt" - mal ganz abgesehen davon, was du überhaupt darunter verstehst: Klassische Rollenverteilung? Geputzte Schuhe? Drei Mahlzeiten am Tag zu festen Zeiten? Gekaufte Wohnungseinrichtung statt Sperrmüllmöbel? Akademische Titelanstrebung statt Hobelspänen? Deutsch-traditionelle Küche auf Seltmann Weiden statt Multikulti auf dem wild kombinierten Flohmarktgeschirr? Knutschen hinter zugezogenen Gardinen (nebst Spitzenstores) statt am Cafétisch? Blitzblanker Opel Omega statt staubkonserviertem Fiat Panda? Gartenzwerge und abgezirkelte Beete statt selbstgeschweißter Schrottskulptur inmitten von Wildwuchs? Oder doch irgendwie CDU statt Linke?
Wo fängt ein bürgerliches Leben für dich an, wo hört es auf?

Der Rest hat mit persönlichem Geschmack und Wohlgefühl zu tun. Auch ein von manchen so empfundener oder selbsternannter Bürgerschreck kann gebügelte Tischdecken mögen. Und wer den buntgescheckten Second-Hand-Stilbruch zum persönlichen Stil erkoren hat, trägt vielleicht erst recht ein gebügeltes Stofftaschentuch bei sich. Und versteht sich darüberhinaus möglicherweise ganz selbstverständlich als BürgerIn des Landes, in dem er/sie/xyz lebt ...



ZITAT
Warum dürfen Frauen und Männer da nicht unterschiedlich sein?


Dass wir hier Vieles dürfen, ist in meinen Augen etwas ganz Wunderbares, und wurde m.E. bislang nicht infrage gestellt.
U.a. dürfen wir weitaus vielfältiger und sogar komplett anders sein als irgendein Klischee und irgendein Ideal es erwarten lassen möchte. Nicht nur dürfen wir es, wir sind es bei genauerem Hinsehen -hören und spüren auch. Welche Regel sich uns aufgrund unseres persönlichen Erfahrungshorizontes auch immer aufdrängen mag: Sie ist nur ein Versuch, der Wirklichkeit eine Verallgemeinerung überzustülpen, und sie - für das jeweilige Verständnis - übersichtlicher und händelbarer zu machen.

edit: `anders´ hat gefehlt
malene
ZITAT(svan @ 27.May.2010 - 12:48) *
Warum dürfen Frauen und Männer da nicht unterschiedlich sein?
Was hat das mit solidarischem Verhalten zu tun?
Erstmal nichts.
Es ist nur eine Beschreibung meiner Erfahrung.


Nein, natürlich "dürfen" alle unterschiedlich sein. ;-)
Und nein, dies hat nichts mit solidarischem Verhalten zu tun.
Ich finde, eben auch aufgrund meiner eigenen Erfahrung, dass Dein Rückschluss, Schwule könnten keine so guten Mütter sein wie viele Frauen, auch etwas voreilig war. Wie vielleicht meiner, wenn ich mich ausschliesslich an meine Biografie halte, dass die Schwulen solidarischer sind.;-)
Meine Bemerkung war eher als Denkanstoss (ich habe ja erwähnt, dass ich in diesem Punkt überempfindlich bin), denn als Kritik gemeint.
DerTagAmMeer
ZITAT(Deirdre @ 27.May.2010 - 09:02) *
Zu Svans "Klischees": Hatte sie nicht in erster Linie von eigenen Beobachtungen und ihren Schlussfolgerungen daraus geschrieben?

Ja. Und ich habe nichts anderes behauptet. Ich habe auch nicht den "Wahrheitsgehalt" der Verallgemeinerungen angezweifelt, Svan persönliche Beobachtungen abgesprochen oder festgestellt, dass Menschen ganz anders sind.

Ich habe lediglich auf eine Paradoxie hingewiesen: Einerseits festzustellen, dass einzelne Menschen über weit mehr Facetten und Unterschiede verfügen als Kategorien vermuten lassen und andererseits in die Vollen zu greifen, wenn es um die vereinfachende Darstellung anderer Personengruppen (also das eigenhändige Nutzen kategorischer Mutmaßungen) geht.

Aus meiner Sicht wird über Stereotype (ganz unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt oder ihrer Nachvollziehbarkeit) noch immer sehr viel Macht ausgeübt. Die destruktive und menschenverachtende Seite wertender Vereinfachungen ist am aktiven Ende aber kaum fühlbar und selten bewusst. Wenn Mädchen als zu blöd für Physik, Lesben als hässlich, Frauen als irrational oder eben Schwule als promisk charakterisiert werden, demütigt es eben die, über die Gesprochen wird - selbst wenn (oder gerade weil) sie stetig an der Realtivitätstheorie scheitern, unter ihrem Aussehen leiden oder keinen festen Sexualpartner haben. Jungs, Männer und Heteros können sich mit solchen Klischees recht entspannt zurücklehnen und mit den Schultern zucken ("Was willste denn? Ist doch nur meine Meinung!")
Ich denke aber, wir haben hier Besseres verdient.

Der Titel dieser Diskussion lässt sich ja auf zwei Arten verstehen. Wo stehe ich und warum? Oder wo stehen "die anderen" und nicht ich. Es ist in unserer politischen Kultur sehr üblich die eigene Verortung über Abgrenzung zu anderen Lagern zu finden. Insofern ist es nachvollziehbar (und legitim) dies auch hier zu tun.
Trotzdem wünsche ich mir persönlich etwas anderes. Und denke auch, dass es die Diskussion sehr viel weiter bringen könnte: Die Auseinandersetzung mit den eigenen Werten, Vorstellungen und Motiven. Wo fühle ich mich eigentlich politisch zu Hause? Und was mache ich, wenn meine Einzelüberzeugungen plötzlich nicht mehr mit dieser politischen Heimat in Einklang zu bringen sind? Solche Konflikte interessieren mich bei Sägefisch ebenso wie bei Svan. Für mich sind sie der Kern dieses Themas, den ich einfach nicht mit Gemeinplätzen plattgebügelt lesen möchte.
Sägefisch
Ich möchte den Thread noch mal aufgreifen und weiterspinnen, wie man überhaupt zu einer klaren Position gelangt - oder ob man auf selbige ganz bewusst verzichtet.

Die klassischen Lager ziehen bestenfalls punktuell an, kaum noch jemand verschreibt sich mit Haut und Haar dem Konservatismus, der Sozialdemokratie usw. Eher scheint man auf der Basis individueller Anschauungen und Ethik einen Abgleich vorzunehmen, der nur ungefähr passen soll und der nicht auf Dauer gilt. Ob das dazu beiträgt dass Politik keinen breiten Ausblick mehr bietet sondern in Einzelfragen zerfasert? Ich frage mich gerade ob die viel vermissten "Visionen" ein Fundament aus innerer Verpflichtung an eine Überzeugung voraussetzen die der Individualwähler so nicht mehr beibringen kann. Schlichter gesagt: man bekommt die Politiker die der Wählerschaft entsprechen: taktisch statt strategisch, wendig statt gefestigt, bestenfalls pragmatisch.

Damit nicht unterstellt dass die klassischen Flügel die Antwort auf heutige Fragen wären. Für die Fragen ihrer Zeit versuchten sie es aber zumindest dort, wo sie Sammelpunkt und Identifikation boten, wo Leute sich einig wurden.

Wie aber kommt nun der Einzelne zu seiner Position? Der Verwirrungen scheinen viele, sich so gut wie ausschliessende Ideen spuken nicht selten in ein und derselben Meinung herum, je nachdem ob man den Menschen gerade ethisch, politisch, in seiner Vorteilssuche oder sonstwie anspricht. Braucht es also Leitlinien und verbindliche Begriffe? Woher nehmen in einer Welt in der dies von aussen nicht mehr automatisch auf einen zukommt?

Mir verspricht Bildung viel, Begriffsklärung und der Versuch, Dinge zu Ende zu denken. Phasenweise vielleicht tatsächlich weniger Meinung, zumindest bis sie sich an etwas ausrichten kann. Und weil man sich dabei leicht ziemlich unfertig vorkommen kann, habe ich durchaus auch Sympathien für diejenigen, die eine Verortung konsequent verweigern.
Sägefisch
QUOTE(DerTagAmMeer @ 09.Jun.2010 - 23:49) *
Und irgendwann wacht man auf, die Würfel sind längst gefallen und die eigene Integrität in einen diffusen Kuhhandel verstrickt.


Ist echte Integrität wirklich leichter wenn man noch nicht festgelegt ist? Sie ist vielleicht (grob gesagt) billiger zu haben, wenn man noch nicht über die Schlammbahn verbindlicher Lebensentscheidungen musste; was sich ja heute durchaus bis jenseits der 30 strecken lässt. Und wie integer ein Jungsporn ist, der attac-Herzblut pumpt und sich gleichzeitig von Papas Aktiengewinnen nen Golf schenken lässt...allenfalls würde ich sagen dass man ihm das nicht vorwerfen kann, aber integer? Dieser Widerspruch findet sich ja bei fast allen westlichen Wohlstandskindern (auch weniger krassen Beispielen wink.gif ), während die weniger privilegierten sich mit politischen Meinungen und Engagement eher zurückhalten.

Mir kommt Integrität eher wie etwas vor was gerade mit dem ausreifen und umreissen der eigenen Persönlichkeit erwächst. Oder eben nicht. Die damit verbundene Verzichtsfähigkeit (auch ideell gesehen) wird ja nun nicht gerade gefeiert.

sonnenstrahl
ZITAT(Sägefisch @ 10.Jun.2010 - 15:17) *
ZITAT(DerTagAmMeer @ 09.Jun.2010 - 23:49) *
Und irgendwann wacht man auf, die Würfel sind längst gefallen und die eigene Integrität in einen diffusen Kuhhandel verstrickt.


Ist echte Integrität wirklich leichter wenn man noch nicht festgelegt ist? ..... .....
Mir kommt Integrität eher wie etwas vor was gerade mit dem ausreifen und umreissen der eigenen Persönlichkeit erwächst. Oder eben nicht. ...


Ich schätze, das Spektrum der Möglichkeiten ist da recht breit.
Wo sich das bei der/dem Einzelnen während unterschiedlicher Lebensphasen einpendelt, hängt sicherlich vom Typ, und außerdem sowohl von sich wandelnden äußeren als auch von inneren Faktoren ab.

Mit Anfang zwanzig hatte ich z.B. kein Problem damit, monatelang auf einer alten Matratze in einer schrabbeligen, zugigen Mansardenküche zu schlafen, und mich tagaus tagein von (in unserem Fall eher wässriger) Gemüsesuppe (Caldo gallego) und Tortilla española zu ernähren. Ich war durch und durch idealistisch, durch und durch abenteuerlustig, voller Sehnsucht nach Freiheit und Harmonie, sehr belastbar, manchmal sehr mutig, sehr unerfahren - und ( v.a. auf dem ganz neuen Terrain der Partnerschaft mit all seinen Ausläufern) überraschend verletz- und manipulierbar (was ich gleichermaßen schmerzhaft wie spannend fand).

Ich erlebte mich damals als wesentlich weniger vielschichtig und widersprüchlich als heute, war entsetzt vom Zynismus, der Raffgier und der Verantwortungslosigkeit die ich erstmals bewusst im Außen wahrnahm, wollte auf keinen Fall zu "denen" dazugehören, nicht mitmachen, ich wollte eine bessere Welt, ich war bereit, mich dafür einzusetzen - und den Golf hätte ich ganz ganz vielleicht trotzdem genommen, wäre er mir gesponsert worden. Eher aber nicht, denn über eine lange Zeit war es mir extrem wichtig, alles ganz alleine hinzukriegen. Mich nicht "kaufen" zu lassen. Vielleicht hätte ich ihn genommen, wenn er mir von jemand ganz anderem als von meinen Eltern geschenkt worden wäre ...
Stattdessen bin ich x mal zwischen Nordspanien und der schwarzwälder Heimat, zwischen der brennend-beflügelten Liebe und den erdschweren Wurzeln, später zwischen Hamburg und irgendwelchen Groß- und Kleindemos und Festivals und Liebschaften europaweit hin- und hergetrampt.
Dergleichen Anstrengungen wäre ich heute nicht mehr gewachsen. Auch ist meine Lust auf derartige Abenteuer gesunken.
Aber muss das, was ich zu leben versucht habe, im Namen der Freiheit und der Liebe zum Leben, weniger ernst gemeint gewesen sein, nur weil ich ein Kind nicht ganz unwohlhabender (wenngleich finanziell fürchterlich gestresster) Eltern war, noch frischer im Saft stand als heute, vor jugendlicher Vitalität und Hummeln im Hintern und einer gewissen Naivität nur so strotzte, und eine lange Reihe von Lebenserfahrungen noch nicht gemacht hatte?
Sägefisch
Weniger ernst nehmen würde ich nicht sagen. Integrität zeigt sich aber meiner bescheidenen Meinung nach durch Prüfungen, denen man sich eher nach dem Erwerb von wirklich konsequenzbehaftetem Entscheidungsspielraum stellen muss. Ob das nun der ökonomische Spielraum ist, Befugnisse oder es durch externe Risiken auf einen zukommt.

Je mehr in der Waagschale liegt, desto interessanter wird es.
DerTagAmMeer
sorry, doppelpost
DerTagAmMeer
ZITAT(Sägefisch @ 10.Jun.2010 - 15:17) *
ZITAT(DerTagAmMeer @ 09.Jun.2010 - 23:49) *
Und irgendwann wacht man auf, die Würfel sind längst gefallen und die eigene Integrität in einen diffusen Kuhhandel verstrickt.


Ist echte Integrität wirklich leichter wenn man noch nicht festgelegt ist? Sie ist vielleicht (grob gesagt) billiger zu haben, wenn man noch nicht über die Schlammbahn verbindlicher Lebensentscheidungen musste; was sich ja heute durchaus bis jenseits der 30 strecken lässt.


Wir liegen nicht weit auseinander. Wenn ich Wikis Definition von Integrität übernehme ...
ZITAT(Wikipedia)
Integrität ist [...] die Übereinstimmung zwischen idealistischen Werten und der tatsächlichen Lebenspraxis
... dann leuchtet ein, dass die Chancen auf Übereinstimmung besonders gut stehen, wenn zumindest eines von beiden sehr schmal bemessen ist.

Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem Übereinstimmung nicht mehr verlustfrei zu haben ist.

Wiki übersetzt "Integritas" übrigens mit "unversehrt", "intakt", "vollständig".
Somit markiert dieser Punkt auch einen nicht mehr rückgängig zu machenden Einschnitt. Moralische Unversehrtheit ist hernach nicht mehr zu haben, ein moralisch einwandfreier Weg nicht mehr möglich. Die Welt ist nicht mehr schwarz oder weiß, sondern eine graue, widersprüchliche Gemengelage. Trotzdem ist es ganz und gar nicht einerlei, wo wir stehen.
Ich finde auch, dass es dann beginnt wirklich spannend zu werden.
Entweder gebe ich meine Ideale einfach auf, weil ich ihnen nicht gerecht werden kann.
Oder ich gebe die Welt auf, verschließe meine Augen vor der Realität und ziehe mich in eine klar begrenzte Enklave zurück, in der meine Werte und Regeln weiterhin Geltung beanspruchen können.
Oder ich gebe meine Integrität auf. Entweder als schmerzhafte Zerreißprobe oder als abgeklärten Zynismus.
Und als Mischung dieser drei gibt es sicher noch viele pragmatische Strategien: überall ein wenig zu kürzen und ein bisschen aufrechterhalten (im sicher traurigsten aller Fälle von allem nur noch den äußeren Schein).

Mein eigener Weg schwankt derzeit ja bekanntlich zwischen Zerreissprobe und Weltflucht. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer fühle ich, dass es für mich persönlich die Integrität ist, die ich am ehesten aufzugeben bereit bin. Ich möchte wohl lieber täglich scheitern als permanent leugnen müssen, was ich sehe und fühle. Wahrscheinlich ist das ein Rest christliche Prägung in meinem Unterbewusstsein und diese intuitive Wahl somit absolut zufällig: Eher Maria Magdalena als selbstgerechter Pharisäer oder Pontius Pilatus. Und bloß nicht Paulus!
Wer mit historischen Vergleichen groß geworden ist, hängt möglicherweise zwischen Johanna von Orléans, Maria Stuart und Heinrichs Gang nach Canossa fest oder kämpft von ganz anderen Bildern umgeben um die eigene Würde.

?
sonnenstrahl
ZITAT(DerTagAmMeer @ 11.Jun.2010 - 00:58) *
Wiki übersetzt "Integritas" übrigens mit "unversehrt", "intakt", "vollständig".


Ich frage mich gerade, ob es nicht zumindest dieser Definition entspricht, wenn mensch lieber täglich an seinen hehren Idealen scheitert als permanent leugnen zu müssen, was sie/er wahrnimmtund fühlt. Integrität als In-Resonanz-sein mit sich und seiner Umwelt, wie schräge und unendlich verquickt sich das auch alles gerade entwickeln mag. Ohne sich in die Tasche zu lügen, gerade auch hinsichtlich der Tatsache, dass mensch auch mal Rückzug braucht vom Mitschwingen und Kommunizieren mit dem Außen. Wir können nicht immerzu nur offen und zupackend sein. Indem ich das anerkenne, bin ich im höchsten Maße integer, d.h. befinde mich in ehrlichem, verantwortungsvollem Zugewandtsein zu mir selbst - also zu dem Teil des Gesamtsystems, auf den ich wirklich Einfluss habe. Und verschaffe mir dadurch erst die Kraft und die Muße, langfristig im Kleinen was zu tun.
Was ich im Übrigen im höchsten Maße vorbildlich finde ...: "Mensch, sei gut zu dir selbst und zu dem, was dich unmittelbar umgibt. Übernimm dich nicht. Halt Zwiesprache mit der Natur. Gieß die Pflanzen, wenn es nicht regnet. Verzichte auf Wegwerfmüll. usw." ...
Würde derartiges Handeln um sich greifen, kämen wir meinem Ideal von Miteinander schon ziemlich nahe. Und damit auch der Wikipedia-Definition von Integrität.
DerTagAmMeer
ZITAT(sonnenstrahl @ 11.Jun.2010 - 15:02) *
Ich frage mich gerade, ob es nicht zumindest dieser Definition entspricht, wenn mensch lieber täglich an seinen hehren Idealen scheitert als permanent leugnen zu müssen, was sie/er wahrnimmt und fühlt. Integrität als In-Resonanz-sein mit sich und seiner Umwelt, wie schräge und unendlich verquickt sich das auch alles gerade entwickeln mag.


Begrifflich sehe ich das nicht so. Deinen lebenspraktischen Folgerungen schließe ich mich trotzdem gerne an. Ohne eine gehörige Portion Nachsicht und Milde (auch sich selbst gegenüber) geht es ganz sicher nicht. In einem ungerechten System zieht es die lebensnotwendige gesellschaftliche Teilhabe unweigerlich nach sich, dass wir uns die Hände dreckig machen. Wir sind zwangsläufig an Strukturen beteiligt, die unserem eigenen Wertesystem höchstwahrscheinlich widersprechen und tragen mit an der Verantwortung der Gemeinschaft. Insofern wäre mein persönliches Ideal ohnehin nur in einer idealen Welt lebbar und ich geißel mich auch nicht regelmäßig vor meinem vollen Kühlschrank, weil ich weiß, dass täglich 25 000 Menschen verhungern. Dennoch führt dieses Wissen dazu, dass ich gar nicht erst auf die Idee komme, mein Wohlstand stünde mit zu. Er ist und bleibt unverdiente Gnade, Glück, Zufall, Privileg. Ich hätte deutlich weniger, wenn globale Verteilungsgerechtigkeit verwirklicht würde. Auch direkt vor meiner Tür in unmittelbarer Nähe gibt es genug Menschen, die mehr arbeiten und weniger verdienen als ich. Und natürlich gibt es auch solche, die viel viel mehr erwirtschaften und obendrein noch mehr Schaden dabei anrichten. Dadurch wird mein eigenes Leben aber keinen Deut "gerechter". Ich kann lediglich mit dem Finger auf sie zeigen, um von mir selbst abzulenken. Ich kann sie lautstark beschimpfen und dafür verurteilen, dass sie dasselbe tun wie ich: das subjektiv Beste aus ihren Möglichkeiten.
Moral und Ethik fragen hingegen stets nach dem objektiv Besten, dem Glück Aller (oder der Ehre Gottes, wenn sie religiös begründet sind, was praktisch keinen großen Unterschied macht, solange dieser Gott als ein gerechter Gott vorgestellt wird).

Wo liegt also mein Problem, wenn wir am Ideal gemessen ohnehin alle gleich, grau und unzureichend sind?

Tatsächlich ist eine moralische Wertung gar nicht meine Baustelle. Ich glaube weder an ausgleichende Gerechtigkeit durch Wiedergeburt noch an ein jüngstes Gericht. Es geht mir lediglich um den ganz alltäglichen Umgang mit der Verantwortung, die ich für meine Entscheidungen trage. Täglich und praktisch. Ich möchte mich bewusst entscheiden, statt blind nach dem Nächstliegenden zu greifen. Ich will mich nicht rückblickend rechtfertigen, sondern denke gerade an all die Entscheidungen, die noch vor mir liegen. Ich denke auch an gegenwärtige Chancen, die ich vielleicht übersehe, wenn ich nicht achtsam, informiert und aufmerksam bin. Dazu gehört es (glaube ich) auch, in regelmäßigen Abständen nach der "Theorie" zu sehen. Die eigene Position zu hinterfragen und Werte zu überprüfen. So habe ich diesen Thread zumindest verstanden. Nicht, um sich für die persönliche Graustufe zu rechtfertigen, sondern um wieder ein bisschen mehr Klarheit in dieses unbestimmte Unwohlsein in der Gewissensgegend zu bringen und der praktischen Vernunft ein Update zu gönnen.

Edit frei nach Max Weber: Jede findet früher oder später ihren eigenen Dämon, dem sie folgt. Für das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft kommt es darauf an, dass aus diesen Dämonen keine Tyrannen werden.
Sägefisch
QUOTE(DerTagAmMeer @ 11.Jun.2010 - 00:58) *
Entweder gebe ich meine Ideale einfach auf, weil ich ihnen nicht gerecht werden kann.
Oder ich gebe die Welt auf, verschließe meine Augen vor der Realität und ziehe mich in eine klar begrenzte Enklave zurück, in der meine Werte und Regeln weiterhin Geltung beanspruchen können.
Oder ich gebe meine Integrität auf. Entweder als schmerzhafte Zerreißprobe oder als abgeklärten Zynismus.
Und als Mischung dieser drei gibt es sicher noch viele pragmatische Strategien: überall ein wenig zu kürzen und ein bisschen aufrechterhalten (im sicher traurigsten aller Fälle von allem nur noch den äußeren Schein).


Nichts davon klingt besonders erspriesslich.

Die Lesart "ich streife die Geissel (wahlweise Hybris) einer Globalverantwortung ab und erkenne meinen reellen Entscheidungsbereich" finde ich weiter unten in den lebenspraktischen Ausführungen - und doch immer noch mit diesem Überbau aus Dilemma.

Fragt sich, wie menschlich denn eine Moral ist die alles an sich gemessen sehen will, obwohl man ihr nur im luftleeren Raum das Silbertablett voller Integrität kredenzen kann. Mag sein dass Du was anderes meinst, aber kennen tu ich schon Leute die sich so eine mäkelnde Diva halten.
DerTagAmMeer
ZITAT(Sägefisch @ 14.Jun.2010 - 11:31) *
Nichts davon klingt besonders erspriesslich.
[...]
Fragt sich, wie menschlich denn eine Moral ist die alles an sich gemessen sehen will, obwohl man ihr nur im luftleeren Raum das Silbertablett voller Integrität kredenzen kann. Mag sein dass Du was anderes meinst, aber kennen tu ich schon Leute die sich so eine mäkelnde Diva halten.


Das Bild der mäkelnden Diva hab ich nicht verstanden; darum kann ich nicht sagen, ob ich sie gemeint habe.

Allerdings sehe ich die Problematik der praktischen Vernunft derzeit weder in einer Hybris der Globalverantwortung noch in der Notwendigkeit eines Silbertabletts im luftleeren Raum.

Die Theorie hat sich seit der Aufklärung nicht sonderlich verändert - ihr Gegenstand hingegen schon. Die Welt ist komplexer, unsere Entscheidungsprozesse sind es auch. Weltumspannende, feinmaschige Informationssysteme sind so hoch entwickelt, dass sie uns sogar das Entscheiden selbst abnehmen können; weil wir ohnehin nicht mehr verstehen, was wir alles wissen. Das Ideal des freien Willens ist mehrdeutig, mehrstimmig, widersprüchlich und eine Last geworden.

Des Menschen Welt ist schon lange keine großartige, größenwahnsinnige Schöpfung mehr. Und der Mensch ist nicht mehr ihre Krone, sondern ihr Fluch. Es ist eine Welt, der wir misstrauen, weil wir uns selbst als Gattung nicht mehr trauen.

Und das ist in der Tat wenig ersprießlich.

Dafür ist es UNSERE Zeit. Die einzige, in der wir mitspielen dürfen und mit uns selbst ins Reine kommen können. Wir können aus der Geschichte lernen. Vieles von dem, was unsere Vernunft überwunden glaubte, ist heute wieder gegenwärtig. Wir können wachsam und aufrichtig sein. Auch in einer korrupten und globalisierten Welt. Mehr erwarte ich nicht von mir. Und das ist keine Geißel, sondern meine Hoffnung, dass jedes Leben einen Wert hat.
sonnenstrahl
ZITAT(Sägefisch @ 10.Jun.2010 - 19:48) *
Weniger ernst nehmen würde ich nicht sagen. Integrität zeigt sich aber meiner bescheidenen Meinung nach durch Prüfungen, denen man sich eher nach dem Erwerb von wirklich konsequenzbehaftetem Entscheidungsspielraum stellen muss. Ob das nun der ökonomische Spielraum ist, Befugnisse oder es durch externe Risiken auf einen zukommt.

Je mehr in der Waagschale liegt, desto interessanter wird es.


Ist es deiner Ansicht nach denn erst ab einem gewissen Alter überhaupt möglich, sich einem Integersein ansatzweise anzunähern? Und siehst du es entsprechend als einen unzulässigen (bzw. naiven oder vermessenen?) Vorgriff an, wenn ein junger Mensch sich, bei aller möglichen Aufrichtigkeit, obendrein auch noch um Integrität bemüht? ... Um dann, in späteren Jahren, feststellen zu müssen, dass sich die ersehnte Deckungsgleichheit damals, mit weniger "in der Waagschale", wahrscheinlich deutlich weniger weltfremd und illusionär angefühlt hätte? Gesetzt den Fall, er hätte sich weiterhin getraut, an genau dem Punkt zu sein, an dem er eben war (inklusive seines Glaubens an die Lebbarkeit der Ideale). Auch trotz derjenigen der älteren Besserwisser, die so viel Spaß an ihrem wohlverdienten Gegenwindgebläse haben, dass sie es bei jeder Gelegenheit anknipsen müssen ...
Da dreht sich das Konzept der Integrität dann selbst ´ne Nase, finde ich.

ZITAT(DerTagAmMeer @ 14.Jun.2010 - 22:51) *
Wir können wachsam und aufrichtig sein. Auch in einer korrupten und globalisierten Welt. Mehr erwarte ich nicht von mir. Und das ist keine Geißel, sondern meine Hoffnung, dass jedes Leben einen Wert hat.


Das Wort Aufrichtigkeit gefällt mir - auch - in diesem Zusammenhang sehr gut. Ebenso wie Wachsamkeit. Oder lieber noch: Wachheit - das klingt für mich entspannter.
Zusammen machen sie nach meinem Verständnis zwar keine verschmelzende Dauerumarmung, aber doch ganz feine, kommunizierende Berührungen zwischen "idealistischen Werten und tatsächlicher Lebenspraxis" möglich, und umfassen wohl das, was ich oben versucht habe, im Begriff "Integrität" unterzubringen. Einschließlich des liebevollen Immer-wieder-neu-Auslotens meiner derzeitigen Position, und des Versuches, meine Werte mit immer wieder frischem Blick zu betrachten.


edit: ein "b" ... und etwas Umsortieren
DerTagAmMeer
ZITAT(sonnenstrahl @ 15.Jun.2010 - 19:08) *
ZITAT(Sägefisch @ 10.Jun.2010 - 19:48) *
Weniger ernst nehmen würde ich nicht sagen. Integrität zeigt sich aber meiner bescheidenen Meinung nach durch Prüfungen, denen man sich eher nach dem Erwerb von wirklich konsequenzbehaftetem Entscheidungsspielraum stellen muss. Ob das nun der ökonomische Spielraum ist, Befugnisse oder es durch externe Risiken auf einen zukommt.

Je mehr in der Waagschale liegt, desto interessanter wird es.


Ist es deiner Ansicht nach denn erst ab einem gewissen Alter überhaupt möglich, sich einem Integersein ansatzweise anzunähern? Und siehst du es entsprechend als einen unzulässigen (bzw. naiven oder vermessenen?) Vorgriff an, wenn ein junger Mensch sich, bei aller möglichen Aufrichtigkeit, obendrein auch noch um Integrität bemüht?


Ich nehme die Frage mal als "allgemein gestellt" wink.gif und werfe meine zwei Cent dazwischen.
Zunächsteinmal glaube ich nicht, dass sich die Problematik so bereits mit 7 oder 8 Jahren stellt. Bei "alterstypischen" Loyalitätskonflikten, Zwickmühlen oder dem ersten Unbehagen gegenüber der Doppelmoral von Autoritäten leidet ein Kind ja vornehmlich unter der Unvereinbarkeit seiner Außenwelt. Ich stelle immer wieder fest, dass Kinder in solchen Situationen äußerst selbstlos agieren. Sie sind ganz selbstverständlich bereit, sich selbst mit Haut und Haar zu opfern, um "ihre Welt" zu retten. Ihr "Selbsterhaltungstrieb" scheint also noch ganz darauf fokussiert zu sein, das direkte Lebensumfeld zu erhalten. Ein von den Bezugspersonen unabhängiges "Selbst" ist allem Anschein nach noch nicht etabliert. Droht also die Familie zu zerbrechen, steht einfach alles auf dem Spiel. Erwachsene unterschätzen leider oftmals, welche Existenzängste das auslöst.

Nach einer (geglückten) Pubertät scheint es hingegen ein Bewusstsein für diesen eigenen weitgehend autonomen Kern zu geben, der mein "ich" ausmacht. Aus dem Unbehagen gegenüber der Doppelmoral von Autoritäten sind offene Konflikte und berechtigte Kritik geworden, die bestenfalls zur ethischen Auffrischung der Erwachsenen beigetragen haben und das Jungvolk auf die folgenden Bewährungsproben der noch frischen "Moralität" vorbereiten konnten wink.gif.

Auch wenn der Pubertät bei mir noch unzählige "Prüfungen" der Integrität gefolgt sind (und sicher noch folgen werden), haben sie alle ihre Wurzeln in diesem Geschehen und arbeiten an der "Vollendung" dieses Ablösungsprozesses.
Ich bin meinen Eltern heute sehr dankbar für ihre Kritikfähigkeit, die es mir leicht gemacht hat, später meiner eigenen Urteilsfähigkeit zu vertrauen. Dennoch waren (und sind) sie immer wieder erschrocken, wenn ich meine Position anschließend ganz selbstverständlich "nach außen trage", offen zu mir stehe und Akzeptanz bzw. eine ehrliche Auseinandersetzung mit meinem Standpunkt erwarte.

Und ich bin immer wieder erschrocken, wenn ich feststelle, wie perfide unsere Gesellschaft tatsächlich gestrickt ist und wie widerstandlos sich meine Lieblingslaster (Bequemlichkeit und Konfliktvermeidung) in ihr verführen lassen. So gibt es gewiss einige Bewährungsproben, deren Termin ich verpasst habe: Entscheidungen, die ich vertagt oder Konsequenzen, die aufgeschoben habe. Daher stammt wohl ein gewisser Argwohn meiner eigenen Trägheit gegenüber, der mich "Wachsamkeit" statt "Wachheit" hat texten lassen wink.gif
sonnenstrahl
ZITAT(DerTagAmMeer @ 16.Jun.2010 - 08:49) *
wie widerstandlos sich meine Lieblingslaster (Bequemlichkeit und Konfliktvermeidung) in ihr verführen lassen. So gibt es gewiss einige Bewährungsproben, deren Termin ich verpasst habe: Entscheidungen, die ich vertagt oder Konsequenzen, die aufgeschoben habe. Daher stammt wohl ein gewisser Argwohn meiner eigenen Trägheit gegenüber, der mich "Wachsamkeit" statt "Wachheit" hat texten lassen wink.gif


Nur ganz kurz und spontan, da ich bereits startklar zum Abflug Richtung (Espressobaraufenthalt mit Lektüre vor der) Arbeit bin:

... und dabei kann Wachheit bei gleichzeitiger Trägheit soooo köstlich sein ... *reck* und *streck* ... Ich jedenfalls möchte auf mein periodisches, bewusstes, süßes Nichts- bzw. Wenig- und Langsamtun, mein tägliches Mich-(zwischendurch auch mal ausgiebig-)Treibenlassen, in der Gewissheit, dass die Welt sich auch ohne mich und mein Auf-dem-Kiwief-sein weiterdrehen wird, nie und nimmer verzichten müssen ... Selbst wenn dabei der eine oder andere Termin fuchtelnd an mir vorbeizieht *gähn*. wink.gif


Sägefisch
QUOTE(sonnenstrahl @ 15.Jun.2010 - 19:08) *
Ist es deiner Ansicht nach denn erst ab einem gewissen Alter überhaupt möglich, sich einem Integersein ansatzweise anzunähern?


Nein, gar nicht. Streben soll man immer. Aber die Gelegenheit, wirklich gewichtige Vorteile zugunsten von Überzeugungen auszuschlagen bieten die meisten Lebensverläufe doch erst nach dem Jugendalter. Und ja, natürlich kenne ich auch Gegenbeispiele.

Meine Idee war wohl eher, dass echte Integrität irgendwo bewiesen werden muss. Will sagen: wenn (bzw. solange) mich sowieso keiner bestechen will, kann ich mir dann was darauf einbilden keiner von den Korrumpierten geworden zu sein?
DerTagAmMeer
Sich was einzubilden, ist ohnehin meist heikel. Gut also, bereits in jungen Jahren darauf verzichten zu lernen biggrin.gif

Unabhängig von selbstgerechter Eitelkeit glaube ich aber schon, dass es "schöne Seelen" gibt, die nie ernsthaft in Versuchung geführt wurden und einfach aus persönlicher Neigung zum Guten ein freundliches, faires und friedliches Leben im Einklang mit sich und ihrem unmittelbaren Umfeld führen. Und ich finde nicht, dass das irgendwie weniger "echt" ist als eine durch Entsagung errungene und auf die Probe gestellte Integrität.

Das mag nicht recht weiter helfen, wenn man beispielsweise gerade selbst zwischen der Entscheidung steht, für ein paar magere Euronen auf einem Biohof Disteln zu zupfen oder eine gut dotierte Stelle inklusive Reputation in einem Forschungskolleg anzunehmen, das großzügig von Monsanto unterstützt wird. Eine solche Entscheidung kann einem aber ohnehin niemand abnehmen. Man kann nur selbst wissen, womit man besser und zufriedener leben kann. Und falls der "politisch korrekte" Job nur erträglich ist, wenn man täglich exzessiv den eigenen Heiligenschein poliert und anschließend die Autoreifen mutmaßlicher Genmafiabosse zersticht, ist das kein Zeichen für Integrität sondern für Scheinheiligkeit. Oder?

Die ganze Geschichte mit dem "guten Leben" funktioniert langfristig ja nur, wenn man selbst Befriedigung daraus ziehen kann. Für irgendwelche Erwartungen oder den Applaus anderer Leute lohnt sich der Aufwand doch eh nicht.
Sägefisch
QUOTE(DerTagAmMeer @ 18.Jun.2010 - 00:18) *
Unabhängig von selbstgerechter Eitelkeit glaube ich aber schon, dass es "schöne Seelen" gibt, die nie ernsthaft in Versuchung geführt wurden und einfach aus persönlicher Neigung zum Guten ein freundliches, faires und friedliches Leben im Einklang mit sich und ihrem unmittelbaren Umfeld führen. Und ich finde nicht, dass das irgendwie weniger "echt" ist als eine durch Entsagung errungene und auf die Probe gestellte Integrität.


Das wollte ich auch nicht gesagt haben. Vermutlich würde so jemand sich ohnehin einen Weg suchen der an diesen Versuchungen eher vorbei- als darauf zu führt. Was wieder etwas anderes ist als vor eben diesen Entscheidungen zu stehen.

Nebenbei meine ich damit nach wie vor auf das gesellschaftliche Aussen bezogene Haltungen. Es gibt natürlich noch ganz andere (Über)Prüfungen, die nicht weniger über einen Menschen aussagen.
sonnenstrahl
ZITAT(Sägefisch @ 17.Jun.2010 - 19:24) *
Meine Idee war wohl eher, dass echte Integrität irgendwo bewiesen werden muss. Will sagen: wenn (bzw. solange) mich sowieso keiner bestechen will, kann ich mir dann was darauf einbilden keiner von den Korrumpierten geworden zu sein?


Die Idee kann ich nachvollziehen.

Ich denke allerdings, dass, ab dem ca. siebten Lebensjahr, jedes Alter, jede Phase der menschlichen Entwicklung reichlich Gelegenheit bietet, mit sich innerlich in Konflikt zu geraten, und damit, sich für die derzeitigen Ideale oder halt für den Eigennutz zu entscheiden.
Sei es, dass der 7jährige den Freund nicht verpetzt, um selbst besser dazustehen; sei es, dass die 9jährige den Familienhund nicht schlägt, auch wenn sie gerade noch so wütend auf ihn ist, weil er ihre Lieblingspuppe zerfetzt hat; sei es, dass die 14jährige ein gefundenes, gut gefülltes Portemonnaie abgibt, obwohl der Inhalt das Christina Aguilera-Konzert finanziert hätte, das die Eltern nicht sponsern können und/oder wollen; sei es, dass die 21jährige nicht auf die Angebote der Loverin/des Lovers ihrer besten Freundin/ihres besten Freundes eingeht, auch wenn sie sie/ihn in manchen Momenten ganz und gar nicht unscharf findet; sei es, dass die 27jährige den machtmissbräuchlichen Einladungen ihres Profs mit Verve begegnet; ...

Manche Themen mögen früher anders gelagert sein als später, manche bleiben erstaunlich gleich ...
Wenn wir die Chancen dafür wahrnehmen, können wir mit zunehmendem Alter mehr Bewusstsein erlangen, was unsere persönliche Vielschichtigkeit und die Vielschichtigkeit der menschlichen Natur überhaupt angeht. Unsere Entscheidungen erscheinen uns angesichts dieser Erkenntnisse möglicherweise tiefer als die, die wir in jüngeren Jahren trafen. Aber auch wenn der Langstiellöffel im einen Fall durch Sahne über Champagnersorbet über Bisquit über Vanillecreme über Götterspeise, und im anderen Falle der Plastikstrohhalm einzig durch Karamell-Milkshake gleitet, heißt das ja noch nicht, dass die Strecke bis zum Grund des Glases unterschiedlich lang ist. Oder dass das eine Glas teurer oder älter oder besser abgespült war als das andere.

Das Fundportemonnaie mit 72 Euro fuffzig drin kann die Gewissenswellen des Teenagers evtl. höher schlagen lassen als die Gewissenswellen eines gutverdienenden Mittvierzigers mit Ökobewusstsein angesichts der Überlegung, ob zum südlichen Urlaubsort vorzugsweise per Bahn oder per Billigflug zu gelangen sei.

Womit allerdings noch gar nichts darüber gesagt ist, wie sehr der jeweilige Mensch sowieso von vorneherein in einen harmonischen Einklang mit sich und der Welt hineingeboren wurde - oder eben nicht, und wie schwer seine Herausforderungen sich gegen sein Ego in die berühmte Waagschale zu werfen belieben.


ZITAT(DerTagAmMeer @ 18.Jun.2010 - 00:18) *
... glaube ich aber schon, dass es "schöne Seelen" gibt, die nie ernsthaft in Versuchung geführt wurden und einfach aus persönlicher Neigung zum Guten ein freundliches, faires und friedliches Leben im Einklang mit sich und ihrem unmittelbaren Umfeld führen.


Ich überlege gerade ernsthaft, ob ich jemals eine in echt kennenlernen durfte ... (Womit ich nicht sagen will, dass ich nicht auch glaube, dass es sie gibt.
gruebel.gif Ob ich wohl eine solches Lichtwesen in Menschengestalt unbedingt "schöner" fände als eine Slalom, Hürden- oder x-ter-Anlauf-Seele voller Blessuren, die sich mehrfach aus allen möglichen Kurven hat tragen lassen, und es sich dennoch gestattet hat, peu a pe daran zu wachsen ... ? Ob ich einfach nur bezaubert wäre? Verzückt und glücklich und erleichtert? Und ob dann wohl was abfärbt auf mich, wenn ich mich ganz dicht daneben stelle? gruebel.gif )
Hm ... wahrscheinlich letzte Inkarnationsstufe vor dem Nirvana oder so ...



edit: Komma
DerTagAmMeer
ZITAT(sonnenstrahl @ 18.Jun.2010 - 19:43) *
Ich überlege gerade ernsthaft, ob ich jemals eine in echt kennenlernen durfte ... (Womit ich nicht sagen will, dass ich nicht auch glaube, dass es sie gibt.
[...] Ob ich einfach nur bezaubert wäre? Verzückt und glücklich und erleichtert? Und ob dann wohl was abfärbt auf mich, wenn ich mich ganz dicht daneben stelle? gruebel.gif )
Hm ... wahrscheinlich letzte Inkarnationsstufe vor dem Nirvana oder so ...


Lach* Vielleicht sind meine Ansprüche an schöne Seelen ja einfach weniger hoch? Ich stelle dabei übrigens fest, dass ich diesbezüglich selbst sehr wenig Ahnung habe. Wahrscheinlich weil mich im Kontakt mit Menschen die Abgründe und Schattenseiten einfach viel mehr reizen und interessieren als ein durch und durch aufgeräumtes, argloses Gemüt?
Und ohne Dir zu nahe zu treten zu wollen, würde ich wohl vermuten, Du wärest eher gelangweilt denn verzückt wink.gif
Hortensie
Ein möglicher weiterer Eklat

Schwere Kost. Für mich bahnt sich hier zwar nicht direkt ein Eklat an, aber es ist nicht ganz einfach mit dieser Schirmherrschaft.
Einerseits kann ich verstehen, das hiermit der Versuch unternommen wird, zu zeigen: Seht her, hier ist ein offen schwuler Mann in einem der zweithöchsten Wahlämter der BRD (Vizekanzler/Außenminister).
Andererseits hat er sein Amt und seine Stellung in der Gesellschaft aber – und da lasse ich mich gerne korrigieren – meines Wissens nach nie dazu benutzt, um Missstände innerhalb eines Landes gegen nicht hetero lebende Menschen aufzuzeigen oder aufzuheben.

Ich persönlich hätte es – obwohl ich mich ihm jetzt nicht parteipolitisch verbunden fühle – eher verstanden, wenn diese Schirmherrschaft Volker Beck angetragen worden wäre.
Er ist immerhin auch ein Bundestagsabgeordneter und jemand der seinen Status dazu benutzt, um z.B. die Missstände gegen nicht hetero lebende Menschen aufzuzeigen und dagegen anzugehen.

Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, als ob die CSD´s in Warschau und Moskau durch seien Teilnahme mehr mediale Aufmerksamkeit erhielten und der Umgang mit den teilnehmenden Menschen dadurch auch außerhalb Osteuropas publik wurde.

Für mich zeigt sich durch den Blick auf diese beiden Politikern ein so unterschiedlicher Umgang mit ihrer Lebensweise und deren Einfluss auf ihr politisches Handeln, dass ich manchmal denke, ob diese zwei nicht für beiden unterschiedlichen, gesellschaftlichen Pole stehen, in deren Spannungsfeld sich die eigene Positionierung befinden könnte
DerTagAmMeer
Ich kann mir ja kaum vorstellen, dass Herr Mronz tatsächlich nicht mit von der Partie sein wird, allein schon aus beruflichen Gründen.
Und - ja - auch ich hätte mich mit Dunja Hayali, Volker Beck, Maren Kroymann, Miriam Meckel, Balian Buschbaum, Birgit Prinz oder dem "geheimen schwulen Fußballer der Nationalmannschaft, dessen Namen keiner kennt" besser beschirmt gefühlt.
Herr Westerwelle erscheint mir zudem auch gar nicht besonders sportlich oder sportinteressiert zu sein wink.gif aber da mag ich mich täuschen.

Trotzdem gehört er zur Community und ich finde es schwierig, ihm persönliches Engagement für die Community ausgerechnet mit dem Argument abzusprechen, er hätte sich ja bisher auch nicht für die Community engagiert.

Die Idee eines schwul-lesbischen Doppelschirms finde ich dennoch gut, noch besser fände ich es aber, wenn Herr Westerwelle in dieser Aufgabe seine wahre Berufung fände und sich zukünftig nur noch als Schirmherr queerer Sportveranstaltungen und nicht mehr als Außenminister betätigen würde.

Ohnehin ist die jüngste "Entwicklung Westerwelles" ja recht spannend. Erst regt die FDP eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes an, dann kritisiert sie die CDU bei ihren Plänen zur Abschaffung des Elterngeldes für Harz-IV-Empfängerinnen, weil die schließlich ebensowenig arbeitende Gattin eines Spitzenverdienders weiterhin 300 Euro bekäme, was ja nicht gerecht und im Sinne der Erfinder wäre ... *staun*

Vielleicht kämpft sich ja gerade sich die lang verschüttete schöne Seele Westerwelles ans Licht und wir werden Zeuge einer spektakulären Wandlung vom Saulus zum Paulus.
Sägefisch
Und der Bogen zum Thread ist...?
neelia
Das Thema ist interessant. Vor allem der Aspekt, dass man ja denken könnte jeder/e fühlt sich der Partei zugehörig, die seine/ihre Interessen vertritt.
Doch das ist eben nicht der Fall, was mich sehr verwundert. Wenn mindestens 10% der Hartz-4-EmpfängerInnen die FDP wählen und die „GutverdienerInnen“ mit ihren unökonomischen Altbauwohnungen mit riesigem Garten, der rund um die Uhr bewässert wird, die Grünen wählen, frage ich mich welche Ambitionen sie dazu verleiten.

Schlechtes Gewissen der Umwelt gegenüber und Scham über die finanzielle Abhängigkeit, die dadurch kompensiert werden soll, indem man die wählt, die das „verkörpern“ wie man selbst gerne wäre?
Warum würden trotzdem so viele aus dem Forum die CDU wählen?
Um wenigstens der politischen Mehrheit anzugehören, während man im wahren Leben eher eine „Randgruppe“ bildet?
Sägefisch
Gestern hat mir also gezeigt dass der linke Block, meine ursprüngliche politsche "Heimat", noch versuppter ist als ich dachte. Wieder die alte Frage - darf ich nicht-wählen? Bin ich noch Demokratin, will ich es in der angebotenen Form sein?

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