Liebe June, wie vertraut das klingt... Mein Vater hat seinen Nachkriegs-Mangel immer humorvoll verpackt: "lieber den Magen verrenkt, als dem Wirt was geschenkt." Sogar als Leistungssportlerin habe ich es irgendwann "geschafft", ein Übergewicht mit mir herumzuschleppen. Nach dem Ende mit dem Sport war es, wie zu erwarten war, dann schnell viel mehr und allen Abnehmerfolgen folgte ein unerbittliches Jojo, das jedes Mal in neue Höhen führte. Schwindelerregend.
Ich habe dann aufgehört mit dem Abnehmen. Oder es nur in einen immer noch zu hohen Bereich etwas runtergeregelt bekommen. Vor vier Jahren hatte ich ein klitzekleines Aha-Erlebnis, als ich bei einem Seminar zur Körperarbeit bei der Vorstellungsrunde mir selbst zuhören konnte: "Mein Körper und ich, wir leben in einer friedlichen Co-Existenz. Wobei er ganz schön viel ertragen muss." Er tat das sehr zuverlässig und tut es bis heute.
Ich hab beileibe kein Patent-Rezept und mein Weg in den letzetn vier Jahren seitdem war lang, schmerzvoll, mühsam und sehr lohnenswert. Aufgehorcht habe ich bei Deiner kurzen Beschreibung wegen dieser Nachkriegs-Generation. Das sind meine Eltern auch und in den Elrebnissen und Überlebnissen meiner Großeltern liegen viele Wurzeln unserer innerfamiliären Entwicklungen und damit auch meiner ganz persönlichen Geschichte. Vielleicht auch davor, aber mein Vor-Generationen-Wissen ist sehr begrenzt. Und der Krieg ist einfach auch so ein mächtiges, einschneidendes Ding. Das haben die Ur-Großeltern zweimal erlebt und die Großeltern einmal.
Diese Spuren habe ich aber erst im vorletzten Jahr als solche erkannt und nachvollzogen. Und ich will auch gar nicht sagen, dass es bei Dir "dasselbe in Grün" sei. Ganz und gar nicht. Der eigentliche Weg war - für mich - einer mit viel reflektiver Arbeit, bei der ich viel Support bekam und zum Teil auch aktiv in Anspruch nahm. Eine Gemengelage sondergleichen... Und ich hatte wenig Handwerkszeug, um das zu bearbeiten. Also: viel geschnitzt und gelötet. Ums Gewicht und Essen ging es fast nie. Das ist wirklich eine Lehre, die aus dem Ganzen gezogen habe. Das Essen ist bei mir wie ein Indikatorpapier, dass ich in eine Flüssigkeit halte und schauen kann, ob es basisch oder übersäuert ist. Am Papier danach rumzumalen, collagieren und irgendwie zu fummeln, ändert so gar nichts an der Zusammensetzung der Flüssigkeit. Inzwischen habe ich auch andere Indikatorpapiere gefunden. Und bin vermutlich bei der Flüssigkeit und ihrer Zusammensetzung angekommen. Ich lerne noch, was sich dabei verändern lässt, was neu hinzukann und was weggelassen werden könnte oder vielleicht sogar sollte.
Ich bin jetzt soweit, Essen als eine Form der Selbstfürsorge zu sehen. Ich gestalte sehr aktiv, mit wem ich übers Essen und Gewicht rede (eigentlich mit niemandem mehr aus meinem Umfeld, sondern mit Fachleuten und Fremden in ähnlicher Situation, nenn es Selbsthilfegruppe ;-) ) und wieviel (1 Stunde pro Woche, manchmal etwas Nachschlag online). Das war meine krasseste Ernährungsumstellung, wenn Du so willst. Und es ist trotzdem nur einer meiner Bausteine auf meinem Weg. Mein Verständnis von Genuss wandelt sich langsam. Ich habe seit einer Weile wieder ein Sättigungsgefühl. Manchmal kann ich aufhören mit dem Essen, wenn ich satt bin. Manchmal nicht. Eine Belohnung ist jetzt ein selbstgekochtes Essen. Nicht mehr die Pizza mit Lachs, Sauce Hollandaise und allem Möglichen. Ich vermisse meine letzte Koch- und Abendess-Partnerin sehr um diese Ruhe und Bedachtheit beim Essen und die geteilte Freude beim Kochen. Vermutlich war das auch ein Baustein. Menschen, die einfach anderes mit Kochen und Essen verbinden.
Ich hoffe, es war jetzt nicht zu viel, zu komplex, zu viel "ich"... Mehr hab ich nicht: nur ein paar Erfahrungen. Vielleicht ist Dein Posting hier ja so eine unerwartete, kleine Intitalzündung, wie damals mein Satz in der Vorstellungsrunde. Ich wünsch es Dir. (Und vielleicht in einem weniger umfangreichen, weniger anstrengenden Prozess, als er bei mir anstand.
)
Herzliche Grüße
McLeod