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Sägefisch
Beitrag 31.Jan.2011 - 17:03
Beitrag #1


Schlaudegen.
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Es ist noch gar nicht so lange her, dass populärwissenschaftliche Zukunftsutopien ganze Roboterheere vorhersagten, die uns allerhand lästige Arbeiten abnehmen sollten. Vor kurzem sah ich einen TV-Schnipsel aus den 60er Jahren, der mir ins Bewusstsein führte, welche zentrale Rolle die Automatisierung in den Zukunftsentwürfen dieser Jahre spielt. Die Reduzierung menschlicher Arbeitsleistung steht hier als positiver Fortschritt - ausgesprochen wird es nicht, aber möglicherweise findet sich hier gar die Idee, weniger Broterwerb ergäbe mehr Freiraum zum Menschsein?

Tatsächlich ist der westliche Industriearbeiter teils durch Maschinen, teils durch hochspezialisierte und -produktive Kollegen, und (zuvörderst?) durch Menschen in Übersee von seiner Arbeit erlöst worden. Oder zumindest von ihrem zuverlässigen Fortbestand. Der Fortschritt ist also mehr oder weniger eingetroffen, die Diskussion über das nun eigentlich anstehende Menschsein (s.o.) hingegen scheint sich in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Es wird zurück gerudert und der reduzierte Broterwerb als Leistungsmangel moniert. Verschiedenste Etiketten von "faul und überflüssig" über "bedauernswert und förderungsbedürftig" bis hin zu "nicht kreativ genug für Alternativstrategien" kommen aus diversen Lagern. Allen gemeinsam ist, dass sie Leistung an Wirtschaft und materieller Existenzsicherung festmachen, und sie in dieser Form gleichzeitig zum gesellschaftlichen Masstab ernennen. Besonders letzteres hat sich für mein Empfinden von der Selbstverständlichkeit (jeder leistet seinen Beitrag) zum Imperativ (nur wer genug leistet zählt) gemausert.

Liegt diese Verschiebung nun daran, dass die Idee des arbeitsbefreiten Menschen keine Antwort auf die Realität des arbeitslosen Konsumenten gab? War die Diskussion schon mal weiter, oder war sie bloss versponnener?
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Sägefisch
Beitrag 31.Jan.2011 - 23:07
Beitrag #2


Schlaudegen.
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Drollig, ich spreche das Beharren auf ökonomische Masstäbe an, und genau die werden herausgekramt.

Fast scheint Leistung selbst als knappes Gut - durch Betonung ihrer Wichtigkeit für den Wert eines Menschen wird gewissermassen Nachfrage erzeugt, während die Verfügbarkeit von Leistungsgelegenheiten nach ökonomischer Logik (= Jobs) exklusiver wird.
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DerTagAmMeer
Beitrag 02.Feb.2011 - 08:27
Beitrag #3


Adiaphora
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ZITAT(Sägefisch @ 31.Jan.2011 - 23:07) *
Drollig, ich spreche das Beharren auf ökonomische Masstäbe an, und genau die werden herausgekramt.


Vielleicht ist die Idee von der Notwendigkeit eines Maßstabes zur Entfaltung einer Utopie auch einfach irreführend. Zumindest wenn es um etwas so persönliches und individuelles geht wie das "Menschsein".

Die meisten Menschen leben mehr oder weniger freiwillig in sozialen Gemeinschaften. Ihr Wohlbefinden, ihr Selbstwert, ihre Entwickungschancen und ihre ökonomischen Möglichkeiten hängen nicht unerheblich von ihrer sozialen Zugehörigkeit und ihrem Stand innerhalb der Gruppe ab. Das lernt jedes Kind spätestens im Kindergarten. Es tut gut und ist wichtig Freunde zu finden. Und so entwickeln Menschen ganz nebenbei ein sehr differenziertes Gespür für die Regeln des Zusammenlebens und -arbeitens. Auch dann, wenn sie ihr Leben als weibliches Stromberg-Double bestreiten.
Aufgeschlossenheit, Zuverlässigkeit, Integrität, Aufmerksamkeit, Mut, Hilfsbereitschaft, Leistungsbereitschaft ... und und und ... sind quasi selbstbelohnendes Verhalten. Es braucht keine religiösen Gebote, keine Soft-Skill-Rankings und Unternehmensrichtlinien, um Menschen zu sozialem Verhalten zu motivieren. Oder etwa doch?

Wenn ich heute eine Buchhandlung betrete, werde ich von Ratgeberliteratur nahezu erschlagen.
In JEDER Abteilung, in jedem Lebensbereich wollen mir eine Vielzahl von Experten mein Leben leichter, einfacher, erfolgreicher machen. Da, wo ich früher abtauchen konnte, gerate ich heute unter Leistungsdruck und werde von Maßstäben erschlagen. Mein Menschsein ist bis in den letzten Winkel vermessen worden. IQ, EQ, praktische, sprituelle und ästhetische Intelligenz ... und schon weiß ich nicht mehr wo mir der Kopf steht. Mit meiner sexuellen Intelligenz ist es ohnehin nicht weit her und auch wenn mein BMI und mein Fitnessquotient voll im grünen Bereich sind, bin ich längst über 30 und neige zur Faltenbildung, was mir meinen Attraktivitätsquotenten defintiv versaut. In punkto "innere Werte" gehts noch gnadenloser ab: Entweder bin ich unattraktiv, weil ich zu viel liebe oder beziehungsunfähig weil ich zu wenig liebe ... und wenn ich schon das Glück habe mit einer langjährigen Partnerschaft auftrumpfen (!) zu können, sind unsere Gespräche zu flach, der GV zu selten oder unsere Hobbies zu langweilig, um mit dem aufregenden Szeneleben einer Metropolen-Single-Lesbe mithalten zu können.
Und das ist nur das Privatmenschsein. Im Job geht's ja erst richtig los ... da hängt dann auch noch die Existenz dran (inkl. -berechtigung).

Was ich damit sagen möchte: Nicht die Leistungsorientierung ist das Problem. Denn Leistung macht Spaß und gehört zum Menschsein dazu. Es ist ein Trieb, ein Grundbedürfnis, ein selbstbelohnendes Verhalten. Problematisch sind die Maßstäbe. Mittelbare Belohnung. Denn wo sich der Ehrgeiz auf Werte, Skalen und Quotienten stürzt wird er grenzen- wie hemmungslos und sehr bald zur Sucht. Wo die Stärke einer sozialen Gemeinschaft auf die Soft-Skills der Einzelnen runtergebrochen wird, entsteht Konkurrenz und Missgunst statt Teamgeist.

Aber in diesem Forum geht es ja um Politik und Utopie. Und wenn Platon von der "politeia" sprach, war damit ein nach dem Gerechtigkeitsprinzip geleiteter Idealstaat gemeint.
Und genau da hat sich etwas verändert. Denn für politische Ideale oder gar Idealismus hat unser Menschsein ohnehin keine Verwendung mehr. Politische Gerechtigkeit ist was für realitätsferne Schwärmer, und die sind nahezu ausgestorben. Denn die globalisierte Welt des Menschen ist krank, korrupt, verdorben und im Verfall begriffen. Wenigstens darin ist man sich einig. Und auch der Mensch ist krank, korrupt, verdorben, defizitär und verfällt bereits, bevor er überhaupt erwachsen geworden ist. Trotzdem strengen wir uns an, fühlen uns umfassend krank, machen eine Reha nach der nächsten, therapieren unsere Handicaps und trainieren unsere Schwächen. Wir schminken und rasieren uns, korrigieren unsere Sprachfehler, optimieren unser Auftreten, kaschieren unsere Makel, bekennen uns zur lernenden Gesellschaft und hetzen bis ins Greisinnenalter von einer Fortbildung zu nächsten.

Und wir bedienen mit diesem Verhalten einen gewaltigen Markt. Denn seit wir kaum noch "echte" Krankheiten haben, die wir behandeln können, wird eben Profit mit Vorsorge, Prävention und "Zivilisationskrankheiten" (sprich mitunter durchaus schmerzhaften Normalzuständen) gemacht. Die AOK heißt jetzt auch Gesundheitskasse (IMG:style_emoticons/default/smile.gif)
Seit wir kaum noch "echte" Arbeitsplätze haben, für die wir ausbilden könnten, wird eben Profit mit Berufsvorbereitung, Weiterbildung, Bewerbungscoaching und Integrationskursen (für in ihrem Kiez bestens integrierte und angepasste Jugendliche) gemacht.
Seit wir kaum noch "echte" Bedrohungen haben, die wir fürchten könnten, wird eben Profit mit Phobien gemacht. Und keine Sorge, der Katalog ist dick und vielfältig. Und vor irgendwas hat schließlich jede Angst. Insofern sind wir alle zumindest psychisch krank, wenigstens kollektiv.

Ich will damit keiner Frau ihr Leiden am Menschsein absprechen.
Ich vermute nur: Leiden - auch soziales Leiden - gehört seit je her zum Menschsein dazu. Untrennbar.
Unser Idealmaß ist eine Werbemasche, die uns glauben lässt, wir könnten und müssten unsere Errettung aus dem Menschsein zu Schnäppchenpreisen kaufen, trainieren, pushen, pimpen. Eine sehr lukratives Glücksversprechen ... weil das Glück ja nie eintritt, ganz egal wie viel man investiert. Es ist im Menschsein wohl einfach nicht als Dauerzustand vorgesehen. Um das festzustellen, braucht es keinen Summa-cum-laude-Abschluss an einer Exzellenz-Universität. Ein Geschichtsbuch Klasse 9/10 und der Blick ins ureigene Lebensumfeld reichen da völlig aus.

Während also Platon nach einem leuchtenden Ideal, nach ewigen, unsterblichen Ideen strebte, betreiben wir tagtäglich Schadensbegrenzung und hoffen inständig, dass es nicht ganz so schlimm wird, wie wir befürchten, oder wenigstens nicht so schnell oder, wenn schon schlimm und schnell, dass wir wenigstens relativ weit oben schwimmen ... weil wir unsere Hausarbeiten gemacht, uns keinen Müßiggang gegönnt, jeden Karren aus dem Dreck gezogen, exzellente Zeugnisse und ein seit 1960 vollständig abgestempeltes Bonusheft plus lückenlose professionelle Zahnreinigung seit 2000 vorzuweisen haben.

Der Beitrag wurde von DerTagAmMeer bearbeitet: 02.Feb.2011 - 09:21
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