Gedankensud, - grenzfrei wortlos Einstellungen

[Corinna Mirja]

Gedankensud

(Liebe Leserinnen: Ich weiß noch nicht einmal, ob ich überhaupt ein Anrecht habe, diesen und den vorigen Text (AlsDieSterneSchrien) hier zu posten.
Trotzdem war es mir ein tiefes Bedürfnis, beide Texte für EUCH zu schreiben - autobiografischerweise, irgendwie. Ich hoffe, das war keine allzu störende Idee meinerseits. Achtung: Manche Worte/ Begriffe mögen triggern!)

Corinna, das mißbrauchte Mädchenkind, ging in die Welt unter den Straßen.
Das Dunkel lockte, als sie rostige Stiege hinabkletterte. Es gab kein Licht, es gab keine Vorbereitungen, nur den Impuls.
Hinein in die verfallene Halle mit den Wänden aus Efeu und dann den Schacht hinunter. Hinab mit dir!
Ansonsten waren da nur Erinnerungen an abstoßende Momente mit dem so älteren Halbbruder. Kopfseits wuchsen Riesenwälder aus Wucherzweifel deshalb - und endlose FurchtBlitzWalzen rollten über trübwerdenden Inneraugen.
Fesseln aus Zwang und sonst gar nichts.
Irgendwann zuvor hatte Corinna die Dunkelheit für sich entdeckt – eine neue Lehrerin - eine Freundin. Seitdem konnte sie mit der Zunge sehen und mit dem Schmecken tasten. Und nun, während sie zu ihr hinabstieg, küßte und liebkoste sie Schwester Dunkelheit mit jedem Atemzug.
Dann kam der Gestank und die Wucht der Schweratmigkeit.
Ohne Ziel stakste Corinna durch enge Kanalrohre, watete in den gährenden Absonderungen der Menschen und lauschte den Strömungen. Gerüche waren egal. Ekel war egal. Schwindelgefühle waren egal. Die Suche nach Stimmen war nicht egal. Corinna ersehnte sich Stimmen, die für sie sprachen, Stimmen, die da sagen mochten, sie sei ein Mädchen – ein echtes Mädchen – wehrhaft und mit ANRECHT AUF DASEIN.
Dafür wandelte sie über Regenbögen aus Kot und Urin.

Eine Kreuzung zweier Kanäle wurde zu einer Räumlichkeit verwirrender Tastechos. Corinna schmeckte Rost, Metalle, Treppengeländer; Pilze an morschem Gestein; Trittsiegel unzählbarer Generationen nocturnalen Getiers – vierbeinig, sechsbeinig, achtbeinig. Und Corinna schmeckte die Linienform des Ortes – tausendsprachig, tausendstimmig, tausendleise, tausendlaut.
Gedankensud.
Hast-hast-hast Gedankensud gefunden. SudSudSudWirbelWallenBlubbernZerplatzendeDenkbilderBlicklosReinFragmenteOhneZiel
.
Werwerwer? SuuudSuuuud-KlarheitWarmköchelndFeuerlosWindlosMangelfeucht...
Es gab nichts zu entgegnen.
AtemBlickReinVerzichtDunkelliebendDichtwassertraum -
SchauUNTERDichIrrlosDarunterMagmaUndDarunterKernesWesenBistDu-Nicht?
SternenessersBistDUGibstDUSICHTSICHTSICHTLOS. DERSTERNENESSERINTOCHTERBistDU-Nicht?
GedankensudGedankensudGedankensud.
Corinna lauschte. Lange. Sehr lange. Es war tröstlich, dem Sud von Gedanken zu verfallen. Aus all dem bildeten sich Blasen einer Sicht.
Sternenessers Tochter fand ihr Lebenslicht im Unlicht-Schimmer.

Wahn der Verzweiflung? Wahrheit oder Weitsicht? Wer vermochte das zu entscheiden? Da waren nur das Nicht-Mehr-Kind Corinna, der Sud aller Gedanken, und die Umarmung durch die schützenden Zungenküsse an die Dunkelheit.

Als Corinna der lichtlosen Welt entstieg, kleiderlos und stinkend, war der Morgen darüber einer Lichternacht der Stadt gewichen. Sie fand den Weg ins bedrohliche Heim, fern aller Augen. Dort angekommen, schien der Kern ihres Wesens im gehärteten Gedankensud geborgen – die Tochter, in Harz gegossen. Ansonsten gab es da nur noch diese schreckliche, mißbrauchte Jungenhülle – Corinnas ungeliebtes Vehikel durch den kommenden Alltag – leidenschaftslos halbschlafwandelnd.

Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sich Corinna endlich vollends zu entfalten vermochte – und JETZT, nun ja – so bin ICH hier:
Eines Wunsches Sternenesserin.

© Corinna Mirja, 19. August 2006

Der Beitrag wurde von Corinna Mirja bearbeitet: 22.Aug.2006 - 07:16

[Mrs.True-Blue]

Da ich hier etwas dazuschreiben?

Wollte nur sagen, das mich dieser Text sehr berührt hat - auch wenn er mich etwas triggert - weil ich mich darin sehr wiederfinde und mir ähnliches widerfahren ist.

@Corinna: sehr, sehr gut die Gedanken zu Worte gebracht, Hut ab!

Lieber Gruß,

Mrs. True-Blue